Gewalt – wie üblich?
Die geschichtlich Interessierten unter Ihnen, die auch gerne mal ein Sachbuch in englischer Sprache lesen, könnte dieses Buch interessieren. Hier meine Rezension:
Marie Muschalek: Violence as usual
Der Untertitel bringt auf den Punkt, um was es geht:
Policing and the Colonial State in German Southwest Africa
Da die Autorin - promovierte Historikerin - als einen Schwerpunkt ihrer Forschungsarbeit deutsche Kolonialgeschichte sowie Polizei- und Militärgeschichte ausweist, wurde ich auf Ihr Buch aufmerksam.
Denn die Geschichte von Deutsch-Südwestafrika interessiert mich...
Einschub: Ich arbeitete einige Monate im Nationalarchiv Windhoek und habe auch selbst ein Buch zur deutschen Kolonialgeschichte verfasst, siehe folgender Link: https://www.ethische-rendite.de/buecher/
...und zum Thema damalige Polizei hatte ich eine große Wissenslücke. Bisher. Nach der Lektüre des Buches fühle ich mich zu dem Thema durchaus gut informiert.
Konkret geht es um die Kaiserliche Landespolizei Deutsch-Südwestafrikas. Diese hatte ein recht kurzes Leben: Von 1905 bis 1915 (dem Jahr der Kapitulation der deutschen Truppen in Deutsch-Südwestafrika im Ersten Weltkrieg).
Dr. Muschalek gliedert ihr Buch in fünf durchdachte Kapitel:
- Honor, Status, and Masculinity
- Soldier-Bureaucrats
- Of Whips, Shackles and Guns
- Police Work: Daily Routines
- Police Work: Violent Regulation of the Labor Market
Dabei hat mir ihre sachlich-unaufgeregte Schreibweise sehr gut gefallen. Und natürlich die Tatsache, dass sie reale Forschungsarbeit geleistet hat und im Nationalarchiv in Windhoek und im Bundesarchiv in Berlin Quellen aus der Zeit durchsucht hat.
Sie bringt deshalb zahlreiche Fallbeispiele, was durchaus anekdotenhaft das Buch gut lesbar macht.
Einiges Grundwissen zur Geschichte Deutsch-Südwestafrikas wird indes vorausgesetzt.
Ich fand es sehr interessant, dass sie in den ersten beiden Kapiteln durchaus soziologisch an die Sache herangegangen ist. Was waren das eigentlich für Männer in der damaligen Polizei? Und dabei untersuchte sie sowohl die ethnisch deutschen Polizisten als auch die "eingeborenen" Hilfspolizisten.
Ein Großteil der deutschen Polizisten bestand aus ehemaligen Unteroffizieren der Armee, und Dr. Muschalek schildert eindrucksvoll deren Prägung. Im Grunde unterer Mittelstand, zeichnete sich diese Bevölkerungsschicht durch zahlreiche Besonderheiten aus, wozu auch und besonders die Wichtigkeit des Begriffs "Ehre" gehörten.
Interessanterweise deckte sich das z.B. mit der Wichtigkeit des Ehrbegriffs bei z.B. Herero-Hilfspolizisten.
Überhaupt fand ich es interessant zu lesen, dass gerade bei kleineren Polizeistationen oft die ethnisch deutschen und "eingeborenen" Polizisten gut zusammenarbeiteten. Hier konnte Kameradschaft durchaus Standesdünkel oder Rassismus überwinden.
Auch macht die Autorin klar, wie groß der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit in Bezug auf Funktion und Ausstattung der Kaiserlichen Landespolizei war.
Was da im fernen Windhoek entschieden wurde, fand manchmal gar nicht den Weg in abgelegene Polizeistationen, wo die "men on the spot" oft ziemlich willkürlich nach eigenen Vorstellungen entschieden.
Auch unappetitliche Themen wie "körperliche Züchtigung" per Peitsche werden behandelt. Da geht es auch darum, dass z.B. Polizeigehilfen bei Fehlvergehen von ihren Vorgesetzten eine Auspeitschung als Strafe verschrieben bekamen.
Der Polizeichef Heinrich Bethe entschied - zum Glück! -, dass diese Form der Disziplinarmaßnahme komplett abgeschafft werden sollte. Doch das geschah erst im Juli 1914 und damit kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Interessant auch Überlegungen der Polizeibehörde in Bezug auf Rang und Achtung. Interessanterweise sollten auch "eingeborene" Hilfspolizisten gegenüber "normalen" Eingeborenen einen höheren Rang einnehmen.
Und - typisch wilhelminisch, hätte ich beinahe geschrieben: In den Dienstvorschriften wird besonderer Fokus auf militärische Haltung und solche Dinge wie "wer grüßt wen zuerst" gelegt. Und zwar noch mehr, als auf Dinge wie z.B. kriminalistische Ermittlungsarbeit.
Die Regulierungen waren in Bezug auf die Polizei durchaus nicht selten "vage und obskur", so Dr. Muschalek.
Das wiederum hatte aus Sicht der "men on the spot" = Polizisten in der Provinz den Vorteil, relativ frei selbst entscheiden zu können.
Manchmal wurde retroaktiv das in einer Verordnung gerechtfertigt, was bereits vorher Praxis gewesen war. Und manchmal wurden Verordnungen unbewusst ignoriert.
Ein Beispiel: Eigentlich war es per Verordnung unersagt, auf Fliehende zu schießen - die Schusswaffen sollten ursprünglich nur zur Selbstverteidigung eingesetzt werden.
Doch die Masse der Polizisten zeigte sich überrascht, als ihnen das erläutert wurde - auf Fliehende zu schießen war offensichtlich gängige Praxis.
Interessant fand ich auch, dass nach der Devise "wer schreibt, der bleibt" z.B die Berichte von Patrouillenritten ausschließlich von ethnisch Deutschen verfasst wurden und keineswegs von eingeborenen Hilfspolizisten. Und das, obwohl manchmal ein deutscher Polizist, der aus der Unterschicht stammte, weniger schreibkundig war als z.B. ein Herero, der in einer Missionsschule eine ausgezeichnete Schulbildung erhalten hatte.
Mein Fazit: Für historisch Interessierte ein Leckerbissen!
Gut 160 Seiten (und ca. 90 Seiten Anmerkungen) prall gefüllte und gut lesbare Informationen zum Thema Kaiserliche Landespolizei Deutsch-Südwestafrika der Jahre 1905 bis 1915. Für mich war es ein intellektueller Lesegenuss. Abgerundet wird das Buch durch einige interessante zeitgenössische Fotographien wie das Foto von der Inspektion einer Polizeistation (siehe unten).
Marie Muschalek: Violence as Usual
Mit herzlichem Gruß!
Ihr
Michael Vaupel
Diplom-Volkswirt / M.A.