JD Vance: Hillbilly-Elegie
Als ich mitbekam, dass diesen Monat die "Hillbilly-Elegie" von JD Vance bei einem anderen Verlag neu aufgelegt wurde, las ich das Buch umgehend. Denn die Lektüre versprach eine authentische Geschichte eines Aufsteigers - mit Reflexion und tragischen Ereignissen inklusive.
Und genau das liefert diese Neuerscheinung, zumindest meiner unmaßgeblichen Ansicht zufolge. Sofern die autobiographische Darstellung des Autors in dem Buch in dieser Form den Tatsachen entspricht, ziehe ich meinen virtuellen Hut vor ihm.
Denn JD Vance schildert, wie er in einer typischen "Hillbilly"-Umgebung in den USA aufgewachsen ist. "Hillbilly" ist in den USA ein Begriff, der in etwa dem deutschen Hinterwäldler entspricht.
Als ich einmal in den USA war, fiel mir in Nevada auf, dass jenseits der Städte eine teilweise durchaus ärmliche Landbevölkerung in heruntergekommenen Holzhäusern oder uralten Wohnwagen lebte - Müll im Vorgarten und ungepflegte Gärten inklusive. Ein amerikanischer Freund bezeichnete die Menschen, die dort wohnten, als "white trash". Das kam mir ziemlich despektierlich vor, so über Menschen zu sprechen, "weißer Abfall"!
In einem solchen Umfeld ist JD Vance aufgewachsen. Und den Reiz seines Buches macht es aus, dass er nicht nur die im widerfahrenen Ereignisse schildert, sondern darüber sinniert, inwieweit diese typisch für diese Gesellschaftsschicht sind. Das ist keine geringe Aufgabe, wenn man selbst aus dieser Schicht stammt und so gewissermaßen einen Schritt zurücktreten muss, um sich auch selbst zu analysieren.
Das gelingt JD Vance phantastisch. Gerade die Stellen, in denen er sein eigenes Fehlverhalten schildert, wirken authentisch und erlauben einen Einblick in die Seele dieser "weißen Unterschicht" in den USA.
Zu Beginn war ich etwas verwirrt, weil der Autor einen mit zig Namen zuschüttet. Da ist Onkel David, da Tante Wee, da der dritte Mann der Mutter, da die Großtante, die Großeltern...
...nach einigen Seiten wurde aber klar: Unter anderem darum geht es. Hillbillys in den USA wachsen üblicherweise mit einer Vielzahl von Verwandten auf. Das ist keine behütete Kleinfamilie, die für sich hin lebt.
Stattdessen können jederzeit entfernte Cousins vorbeischauen und dann auch erwarten, dass man den Abend mit ihnen verbringt oder sie einige Tage bei sich wohnen lässt.
Der Autor schildert eindrucksvoll, wie er als Kind gewissermaßen ständig unter Strom stand. Streitereien der Mutter mit dem jeweiligen Partner verliefen lautstark, es gab emotionale Erpressung - und als "Tipp" für einen Ehepartner gibt es den Hinweis, Hund und Kinder einzupacken und den anderen stehen zu lassen - ohne zu sagen, wo man hinfährt. So etwas wirkt sich in der Psyche eines Kindes aus...
Es gibt einen gewissen Ehrenkodex. Wer z.B. die eigenen Eltern beleidigt, der wird nach einer Warnung konsequent körperlich angegangen (auch wenn er/sie inhaltlich Recht hat). Wer immer sorgsam die Hausaufgaben macht, gilt als "Mädchen" etc. pp.
Nach der Lektüre des Buchs habe ich wirklich das Gefühl, die Denkweise der Hillbillys in den USA zu verstehen. Da es sich um eine zig Millionen Menschen umfassende Schicht handelt, ist das auch zur Einschätzung der USA insgesamt nicht unwesentlich.
Und nun kann ich nur müde darüber lächeln, wenn z.B. in hiesigen Medien davon geschrieben wird, dass die "weiße Arbeiterschicht" der USA zum Beispiel deshalb Trump wählt, weil sie schlecht informiert sind etc. pp.
Nach der Lektüre der "Hillbilly-Elegie" verstehe ich stattdessen die tiefe Abneigung der einfachen Arbeiter gegen die "Ostküsten-Oberschicht" in den USA. Und wenn eine "First Lady" die Hillbillys dafür kritisiert, dass sie ihre Kinder nicht gesund ernähren - dann hassen selbige Hillbillys diese Frau nicht etwa dafür, weil sie falsch informiert sind.
Sondern deshalb, weil sie im Grunde wissen, dass sie Recht hat. Das ist ein Weg, mit kognitiver Dissonanz umzugehen. Wer das verurteilt, mag indes die aus meiner Sicht positiven Seiten nicht übersehen - wie die Loyalität zu den eigenen Verwandten, den Patriotismus, das Einstehen für die eigenen Werte. So räumt JD Vance mehrfach ein, selbst nur deshalb "gerettet" worden zu sein, weil er zu einem großen Teil bei seinen Großeltern aufwuchs. "Hillbilly"-Loyalität eben.
Mein Fazit:
Für mich ist dies eindeutig das bisher beste Nicht-Sachbuch, das ich dieses Jahr gelesen habe. Eine äußerst interessante Lebensgeschichte mit Rückschlüssen auf die Bevölkerungsgruppe der "Hillbillys" schaffen es, dass das Buch Lesevergnügen mit Erkenntnisgewinn verbindet. Und der Autor versteht es, gut Geschichten zu erzählen. Insofern ein klares Daumen hoch meinerseits für:
(Anmerkung: Der Link führt zu Amazon - falls Sie das Buch kaufen möchten, würde ich mich freuen, wenn Sie den lokalen Buchhandel unterstützen)
Angenehme Lektüre!
Ihr
Michael Vaupel
Diplom-Volkswirt / M.A.