Bei den Müllsammlern

Bei den Müllsammlern

Eigentlich wollte ich im dieses Frühjahr zusammen mit "Ethische Rendite"-Leser/innen eine Namibia-Rundreise unternehmen.

Es fanden sich genug Interessenten, doch dann machten uns die Einschränkungen der aktuellen Pandemie einen Strich durch die geplante Gruppenreise. Und so geschah es, dass ich nun ohne die Lesergruppe durch Namibia reise.

Neulich entschloss ich mich dazu, die eigene Komfortzone zu verlassen, um 5 Uhr aufzustehen und mich um 5:30 Uhr auf den Weg zu machen, um die örtlichen "in-den-Mülltonnen-Wühler" bei ihren morgendlichen Aktivitäten zu begleiten.

Mir war einige Wochen zuvor eine gut gekleidete Frau (die ich der Mittelschicht zuordnen würde) aufgefallen, die in einer Mülltonne nach etwas Essbarem suchte. Sie hat laut eigener Angabe ihren Job verloren (Stichwort "lockdown"), und Arbeitslosenhilfe gibt es hier eben nicht. Nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit ohne jegliche Einnahmen war dann ein Punkt erreicht, an dem es für sie notwendig wurde, Mülltonnen zu durchsuchen.

Ähnlich der Fall bei Frans, den ich gegen 6:30 h kennenlernte. Mit seinem Einverständnis habe ich dieses Foto gemacht:

Er erzählte mir seine Geschichte: Er war beim örtlichen Casino beschäftigt, für die Installation und Überwachung der Sicherheitskameras. Er machte auf mich einen recht cleveren und aufgeweckten Eindruck. Nun, da das Casino monatelang geschlossen ist, steht er seit Monaten ohne Arbeit da. Um seine Kinder ernähren zu können, bleibt ihm nichts  Anderes, als jeden Morgen um 5 Uhr aufzustehen und in wechselnden Stadtteilen die herausgestellten Mülltonnen zu durchsuchen, bevor die Müllabfuhr kommt. Wenn er da z.B. Dosen findet, sammelt er diese - für einen Kilo Dosen bekommt er vom Metallhändler umgerechnet ca. 0,40 Euro. Wenn sich noch verwertbare Lebensmittel im Müll finden, werden diese gegessen.

Frans ist kein Einzelfall - so traf ich u.a. Zelda, die ihr viermonatiges Baby dabei hatte und Mülltonnen durchwühlte. Sie berichtete mir, dass sie zuvor als "housemaid" = Putzfrau, Hausmädchen gearbeitet hatte. Wegen der Coronavirus-Pandemie verlor sie ihren Job. Und da die potenziellen Arbeitgeber selber Probleme haben, findet sie keinen neuen Job. Hilfe vom Staat gibt es nicht. Also Mülltonnen durchwühlen.

Interessanterweise bezeichnen sich diese Personen als "Digger", und um 8:30 h - nachdem die Müllabfuhr da war und die Mülltonnen geleert waren - gingen sie erstmal zur...Kirche. Dort trafen sich ca. 70 von ihnen, ich bin mitgegangen und mit ihnen in den eigens für sie gehaltenen Gottesdienst. Denn da gibt es einen engagierten Priester vor Ort, der nach der Messe jedem der Anwesenden auch belegte Brote zum Essen und etwas Reis zum Mitnehmen schenkte. Ich fragte einen der "Digger", wieviele der Anwesenden seiner Ansicht nach nur wegen des Imbisses in der Kirche sind. Etwa die Hälfte, so seine Einschätzung.

Die Messe selbst war typisch afrikanisch, mit viel aufstehen, klatschen, sogar etwas tanzen und lauten Bejahungsrufen. Aber es wurden die richtigen Worte gefunden. Denn als die "Digger" aufgefordert wurden, aufzustehen, sich einmal zu drehen und vier Schritte zu gehen - und sie das taten - hieß es danach: Warum seid ihr nicht dankbar dafür, dass ihr das tun könnt? Ist das nicht wunderbar? Nur weil ihr arm seid, seid ihr keine schlechten Menschen. Auch ihr habt Würde. Ihr stehlt nicht, ihr sucht im Müll nach Essbarem oder Verwertbarem, um eure Familien zu ernähren. Selbst im Müll wühlen geht mit Würde. Wollt ihr "diggers with dignity" sein? Die Menschen bejahten und ich hatte das Gefühl, als ob sich gebeugte Gestalten aufrichteten.

Als dann ein gehbehinderter "digger" (der bereits eine Stunde benötigt, um zu den Mülltonnen zu gelangen) begann, ein für mich traurig klingendes Lied in Damara-Sprache zu singen und die Gemeinde einstimmte, bekam ich dann doch eine Gänsehaut, als ich erfuhr, um was es da geht: Sie dankten Gott für ihr Leben.

Nach ca. 4 Stunden verließ ich die "digger" und ich habe noch längere Zeit über dieses Erlebnis nachgedacht.

Mit herzlichem Gruß!

Ihr

Michael Vaupel

Diplom-Volkswirt

Michael Vaupel

"Fairness, Respekt vor Mensch und Tier sowie der gewiefte Blick für clevere Investment-Chancen - das lässt sich meiner Ansicht nach sehr wohl vereinen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir diese Ansicht gemeinsam vertreten werden - auch gegen den Mainstream."

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