Rezension: Der Stammhalter
Als ich neulich auf die deutsche Übersetzung des in den Niederlanden preisgekrönten Buches „Der Stammhalter“ von Alexander Münninghoff stieß, machte ich mich umgehend an die Lektüre. Aus diesem Grund:
Der Autor – Alexander Münninghoff – hat eine höchst interessante Familiengeschichte vorzuweisen. Diese ist gewissermaßen ein Brennspiegel der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert.
Ein nach Lettland ausgewanderter Niederländer, der eine Russin heiratet und deren Kinder als Baltendeutsche aufwachsen – und dann in den Strudel des Zweiten Weltkriegs geraten.
Das klang für mich nach einem höchst interessanten „Setting“ – und da der Autor sich zuvor einen Namen als Kriegsberichterstatter gemacht hatte und auf mich einen sehr sympathischen Eindruck macht, war ich an seiner „Autobiographie in Romanform“ interessiert.
Ich glaube, in diesem Jahr habe ich bisher noch keinen Roman so sehr verschlungen wie den „Stammhalter“. Die Schilderung der familiären Verhältnisse erinnerte mich direkt an Dostojewski und seine Werke wie „Der Idiot“ oder „Die Brüder Karamasow“.
Das bedeutet auch, dass mir teilweise der Kopf schwirrte angesichts der ganzen Namen. Trees, Guus, Titty und Xeno sowie der „alte Herr“ – gleich auf den ersten Seiten werden diverse Personen eingeführt, und es bleibt nicht leicht, den Überblick zu behalten. Vielleicht wäre eine Grafik mit einem Stammbaum im Anhang hilfreich gewesen (analog dem Namensverzeichnis bei manchen Werken Dostojewskis).
Ich finde: In „Der Stammhalter“ bringt der Autor seine Familiengeschichte gut lesbar und äußerst spannend zu Papier! Dabei beeindruckte mich, wie feinfühlig er manche Charaktere er nachzeichnete. So wirken die Rahmendaten des Vaters zunächst nicht gerade sympathisch. Doch im Verlauf des Buches änderte sich meine Einschätzung. Und dieses Gefühl hatte ich öfter – bei diversen Charakteren weiß ich nicht, ob ich sie sympathisch finde oder nicht.
Dies gilt auch und besonders für den Großvater des Autors, einen äußerst findigen und umtriebigen niederländischen Geschäftsmann. Dieser kann aber „auch anders“, wenn die Familienmitglieder nicht nach seiner Pfeife tanzen.
Diese Familiengeschichte ist an sich spannend und lesenswert und äußerst gut geschrieben. Doch eingebettet in die europäische Zeitgeschichte hat sie dazu geführt, dass ich das Buch kaum aus der Hand gelegt habe.
Da flieht die Familie nach der sowjetischen Okkupation Lettlands in die Niederlande – und nennt ihr dortiges Domizil „Briva Latvija“ (freies Lettland). Der Vater des Autors geht zur Waffen SS, weil er gegen die Sowjets kämpfen will, die Russen „an sich“ aber liebt. Ein Onkel des Autors wiederum tätigt vom neutralen Schweden aus lukrative Geschäfte, der Großvater versteht es wiederum, sich mit den unterschiedlichsten Machthabern zu arrangieren und zwischendrin zeigt sich, dass hinter den Fassaden des Familienlebens teilweise Abgründe gähnen.
Und zwischendrin spielt immer wieder die politisch-wirtschaftliche Gesamtlage in die Familiengeschichte hinein. Dazu ein Beispiel dazu aus dem Buch (um 1929 herum, S. 68/69):
„In der Familie erzählte man sich immer wieder gern, dass Onkel Wims Erlös aus dem Verkauf seiner Fabrik gerade dafür ausreichte, in einem guten Restaurant zu Abend zu essen, was er glücklicherweise auch tat, und sich zum Schluss mit der Verkaufsurkunde eine dicke Zigarre anzuzünden, was er glücklicherweise auch tat.“
Ich mag diesen Stil, der gewissermaßen literarisches Augenzwinkern verkörpert. Und Onkel Wim war mir nach diesem Satz übrigens direkt sympathisch.
Ich will hier natürlich keine wesentlichen Handlungsstränge vorwegnehmen. Doch für mich war diese grandiose niederländisch-russisch-baltendeutsche Familiengeschichte ein reiner Lesegenuss:
Alexander Münninghoff: Der Stammhalter
Mit freundlichem Gruß!
Ihr
Michael Vaupel
Diplom-Volkswirt / M.A.
P.S. Bei Interesse finden Sie eine kostenlose Leseprobe unter diesem Link