Rezension: Für alle Tage. Ein Lebensbuch
Im November 2012 notierte ich mir nach der Lektüre von Lew Tolstois "Krieg und Frieden":
"Ein wahres Epos - beeindruckend, bis auf die geschichtsphilosophischen Einlagen".
So kann sich der Mensch ändern. Vielleicht würden mir inzwischen gerade diese gut gefallen. Doch ich habe zumindest bis auf weiteres nicht vor, "Krieg und Frieden" nochmal zu lesen. Derzeit liegt stattdessen ein neues/altes Buch von Lew Tolstoi auf meinem Tisch:
Lew Tolstoi: Für alle Tage. Ein Lebensbuch
Als Neuauflage im Juli erschienen bei C.H. Beck, dort als "Tolstois letztes großes Werk" aus dem Jahr 1904 bezeichnet. Ein echtes Schwergewicht - im wörtlichen Sinne: Das Buch hat einen Umfang von ca. 760 Seiten. Die Aufmachung ist hochwertig, es ist mir bereits eine Freude, den Einband zu berühren.
Es erinnerte mich zunächst an die Essais von Michel de Montaigne. Auch da gibt es in einem umfangreichen Buch recht kurze Kapitel zu diversen Themen, im wahrsten Sinne zum Thema "Gott und die Welt". Da wie hier in der Sprache durchaus einfach und verständlich - doch "runterlesen" lassen sich beide Texte kaum. Denn zu oft musste zumindest ich innehalten, um über das Gelesene nachzudenken und es z.B. mit den eigenen Wertevorstellungen zu messen.
Der Aufbau von "Für alle Tage" ist derart, dass es sich wirklich um ein Jahrbuch handelt. Lew Tolstoi liefert für jeden Tag - beginnend natürlich mit dem 1. Januar - eines Jahres einige Gedanken, oft nur eine Seite pro Tag. Jede Woche gibt es zusätzlich dann eine "Wochenlektüre" von einigen Seiten. Auf diese Weise wird auch ein Buch mit 760 Seiten keine Belastung, sondern ein angenehmer täglicher Begleiter.
Insofern ist meine Rezension unter dem Vorbehalt zu sehen, dass ich erst Mitte Juli begonnen habe und insofern kaum ein Zwölftel der Texte gelesen habe. Was ich sagen kann: Wenn es so etwas wie eine "russische Seele" gibt, dann sprach sie aus diesem Buch zu mir. Oft genug hatte ich das Gefühl, Tolstoi gewissermaßen beim Schreiben über die Schulter zu sehen. Dabei sind es keineswegs abgeschlossene Texte, eher Collagen. Tolstoi greift Themen heraus, die ihn offenbar beschäftigen, und gibt dazu die Ansichten von Autoren aus diversen Zeitaltern und Kulturkreisen wider (ich nehme an, er teilt diese Ansichten). Von Brahmanenweisheiten über Laotse bis hin zu Kant.
Ein Beispiel: Tolstoi sinniert über sein Leben, das "Leiden und Tod unterworfen" sei. Hier gilt es zu beachten, dass er "Für alle Tage" wenige Jahre vor seinem Tod geschrieben hat. "Keinerlei Anstrengungen" können ihn davon befreien. Er kommt zu dem Schluss, dass sein geistiges Leben hingegen "weder Leiden noch Tod" unterliege. Insofern sieht er seine Errettung von Leiden und Tod darin, sein Bewusstsein in sein geistiges Ich zu übertragen.
Und weiter (Text zum 15. Juli) zu dem Thema: Er rät, mit sich selbst in Harmonie zu sein und es "den ewigen Mächten" zu überlassen, dass sie das Leben lenken. Zitat: "Wenn der Tod dich noch nicht holt - umso besser. Rafft er dich dahin, ist es auch sehr gut. Wenn er dich nur zur Hälfte tötet, ist das auch sehr gut: Das versperrt dir den Weg des Erfolges und eröffnet dir den Weg des Heldenmuts, der Entsagung, der sittlichen Größe."
Das sind keine Themen, mit denen ich Kollegen aus der Finanzwelt kommen brauche. Habe ich auch nicht nötig. Eine Viertelstunde pro Tag reicht mir, die ich dann zusammen mit Lew Tolstoi verbringe. Meine Empfehlung: Ein Glas Whisky dazu und über den Text des jeweiligen Tages nachdenken.
Zitat zum Tag:
Ich würde mir wünschen, dass der Leser bei der täglichen Lektüre dieses Buches das gleiche wohltuende, erhebende Gefühl empfindet, das ich bei seiner Zusammenstellung empfand.
- Lew Tolstoi, Jasnaja Poljana, März 1908
Schönen Feierabend!
Ihr
Michael Vaupel
Magister Artium
P.S.: Bei Interesse finden Sie eine kostenlose Leseprobe unter diesem Link bei C.H. Beck