Rezension: Kaiserdämmerung

Rezension: Kaiserdämmerung

Hier meine Rezension der aktuellen Veröffentlichung: "Käuserdämmerung" von Prof. Rainer F. Schmidt.

Eine fulminante Gesamtdarstellung und Neudeutung des wilhelminischen Reichs, über die man lange diskutieren wird.

- So die Beschreibung des Verlags zu dieser interessanten Neuerscheinung.

Eine Bemerkung vorab: Das ist keine "coffee table"-Lektüre, bei der man/frau bei einem Getränk auf dem Sofa einige Seiten locker durchblättern kann. Es handelt sich um eine umfassende Abhandlung zum wilhelminischen Kaiserreich. Wobei mit "wilhelminisch" im Wesentlichen die Regierungszeit Wilhems II. gemeint ist (obwohl auch sein Großvater, Kaiser Wilhelm I., ein "Wilhelm" war). Es geht demnach um die Epoche 1888 bis 1918.

Die große Frage, die vorab in Kapitel 1 vom Verfasser gestellt wird, lautet: Hat das Deutsche Reich die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe Europas? Waren Militarismus, Selbstüberschätzung und Sprunghaftigkeit des Kaisers sowie Angst vor Einkreisung Gründe für den Weg in den Krieg? Handelte es sich beim Deutschen Reich unter Wilhelm II. um einen kryptoabsolutistischen militaristischen Block, der sich von den westlichen Demokratien Großbritannien und Frankreich abhob?

Oder lässt sich das alles auch ganz anders sehen - gibt es auch Perspektiven, die zu überraschenden anderen Ansichten kommen?

Sie können sich denken, dass das Buch exakt solche alternativen Perspektiven sucht und beschreibt und damit zu teilweise überraschenden und eindrucksvollen Ergebnissen kommt.

Dazu hat der Verfasser zunächst eine Fleißarbeit unternehmen, indem er die "Anatomie" des Wilhelminischen Reiches untersucht. Da geht es um "Strukturen und Kräfte 1890-1914", wozu natürlich zum einen die Parteien im Reichstag gehören. Erfreulicherweise greift er dabei nich nur auf Sekundärquellen zurück, sondern betrieb in mehreren Archiven wie dem Geheimen Staatsarchiv München Recherche in alten Dokumenten.

Der Verfasser nimmt aber auch Wirtschaftsverbände, den Angestelltenverband, den Bundesrat und die Industriearbeiterschaft ins Visier. Auch Agitationsverbände - nicht zuletzt im Hinblick auf das Thema Antisemitismus - werden behandelt, was ich im Sinne des Anspruchs "umfassende Gesamtdarstellung" äußerst passend finde.

Dabei freut es mich als Volkswirt, dass auch wirtschaftliche Themen nicht zu kurz kommen. Schließlich spielten diese oft genug in die damalige Politik hinein. Sei es das Thema "Schutzzölle", das auch direkt benachbarte Mächte wie Russland betraf, welche große Getreidemengen nach Deutschland lieferten. Oder das Thema Reichsfinanzen. Denn da war das Reich der "Kostgänger der Länder", sollte es mehr Reichssteuern geben?

Bei dem Thema musste ich manchmal wohlwohllend schmunzeln, als ich über die damaligen Dimensionen las. So war der Höchstbetrag der Einkommensteuer auf 4% des Einkommens gedeckt. Was gab es da für Diskussionen, ob das etwas erhöht werden könnte! Gute alte Zeit eben. Heutzutage wären wohl alle Steuerzahlenden froh, wenn die Einkommensteuer auf 4% gedeckelt wäre.

Bei einigen wirtschaftlichen Punkten hingegen stutzte ich. So las ich vom "stetig anwachsenden Schuldendienst des Reiches von durchschnittlich 60% des Nettoinlandsproduktes".

Schuldendienst in Höhe von 60% des Nettoinlandsproduktes? Das erscheint mir unverhältnismäßig hoch zu sein = fehlerhaft. Und auf Seite 63 las ich:

"Zudem war man nicht in der Lage wie dies etwa Russland praktizierte, große Anleihen auf dem internationalen Kapitalmarkt aufzunehmen".

Das wird nicht weiter erläutert, ist für wirtschaftlich Interessierte wie mich aber äußerst interessant. Denn das Deutsche Reich war damals viel fortschrittlicher als Russland, mit Weltmarktführung bei optischen und elektrischen Geräten sowie im Maschinenbau. Wieso sollte es da für Deutschland problematischer sein, Anleihen zu platzieren?

Zudem waren die Währungen damals zumindest teilweise goldgedeckt, so dass sich eine Regierung nicht einfach durch "Gelddrucken" der Schuldenlast entledigen konnte.

Ein Teil der Inhaltsangabe. Quelle: Verlag

Oder der Punkt Öffentliche Förderung des Baus von Arbeiterwohnungen. Da fand ich auf Seite 247 sinngemäß zusammengefasst diese Feststellung:

Das Reich stellte ab der Jahrhundertwende jährlich 4-5 Mio. Mark zu Verfügung. das summierte sich laut Autor bis zum Ersten Weltkrieg auf einen Betrag von 500 Mio. Mark und war nur der "berühmte Tropfen auf dem heißen Stein."

Von 1900 bis 1914 jährlich 4-5 Mio. Mark ergibt keine "500 Mio. Mark". Vielleicht ist es ein Schreibefehler und es sind 50 Mio. Mark gemeint. Ein Fall für den Lektor.

Es fiel mir auf, dass ich solche Unstimmigkeiten nur bei wirtschaftlichen Themen bemerkte.

Aber ich möchte den Wald sehen, nicht die einzelnen Bäume.

Und da kann ich sagen: Chapeau an den Verfasser für diese neue, moderne Gesamtdarstellung des Deutschen Reichs von 1890 bis 1914!

Ein klares Fazit gibt es meiner Ansicht nach nicht. Es war da vieles im Fluss, der Kaiser war keineswegs der absolute Alleinherrscher. Besonders nach der Jahrhundertwende spielte die öffentliche Meinung eine immer größere Rolle, Stichwort Presse und Reichstagswahlen.

Und wer weiß, wenn 1908 im Zuge der "Daily Telegraph"-Affäre durchgesetzt worden wäre, dass der Reichskanzler dem gewählten Reichstag verantwortlich ist und nicht dem Kaiser, dann hätten wir vielleicht eine aus meiner Sicht wünschenswerte Entwicklung gesehen.

Diese Entwicklung ließe sich mit "Parlamentarisierung des Reichs" beschreiben. Dann hätten wir vielleicht heute immer noch einen Kaiser - aber er wäre eben kaum mehr als ein "Grüß-August", ähnlich wie die Monarchin in Großbritannien. Und unter uns - unser Bundespräsident ist ja im Grunde auch kaum etwas anderes.

Doch es kam anders. Doch so musste es nicht kommen. An vielen Stellen steht die weitere Entwicklung des Deutschen Reiches vor entscheidenden Weichenstellungen, die manchmal mit etwas anderen zufälligen Faktoren ganz anders verlaufen wären. Gerade beim letzten Reichskanzler von Bethmann Hollweg dachte ich mir das einige Male.

Mein Fazit:

Das Buch ließ mich einigermaßen verwirrt zurück. Denn es liefert keine klare Antwort im Sinne auf die im 1. Kapitel gestellte Frage. Zwangsläufige Entwicklung, von Bismarck zu Hitler, Erster Weltkrieg aufgrund Kaiser Wilhelm II., Militarismus etc.?

Keineswegs. Aber auch keineswegs - wenn mehr Zeit gewonnen worden wäre, hätte es eine weitere Demokratisierung gegeben.

Es gab parallel durchaus moderne und demokratische Akteure und Institutionen - und daneben auch ständisch-bewahrende, wie eben auch das Militär. Da wurden neue Offiziere nämlich nicht durch Beförderung hinzugefügt, sondern kooptiert. Das vorhandene Offizierskorps fügte insofern neue Offiziere hinzu - und wer da nicht zum Offizierskorps passte, kam eben nicht dazu, Dienstzeit und Fähigkeit hin oder her.

Das war übrigens durchaus nicht im nationalen Interesse, da es die Zahl der Offiziere künstlich begrenzte, da fähige Bürgerliche von höheren Offiziersstellen ferngehalten wurden.

Gleichzeitig gab es Enthüllungsjournalisten wie Maximilian von Harden, der bei seinen Artikeln auch Interna verwendete, die wahrscheinlich (so der Autor) von der "Eminenz" im Auswärtigen Amt, Friedrich August von Holstein, stammten.

eine Stärke des Buches sind auch die stimmigen Charakterzeichnungen der Reichskanzler der beschriebenen Epoche.

Insofern liefert das Buch keine klare Antwort im Sinne - so war es - oder so. Es bleibt ein "das wäre möglich gewesen...das aber auch". Und gerade das überzeugte mich. Der Autor zeigt auf, was für Akteure und Entwicklungen es gab, und er maßt sich nicht an, eine zwangsläufige Entwicklung vorauszusagen. Denn die Geschichte war damals offen.

Was mir noch auffiel: Im Untertitel heißt es, "Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang". Gerade die Perspektive der anderen genannten Mächte kommt mir im Buch zu kurz, es ist doch sehr deutschland-fixiert, anders als zum Beispiel das Buch von Christoper Clarke zum Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Aber da diese Neuerscheinung auch so bereits gut 850 Seiten hat, will ich mich nicht beschweren...

Wer an der Epoche grundsätzlich interessiert ist, für den/die klare Leseempfehlung meinerseits für:

Rainer F. Schmidt: Kaiserdämmerung

Eine kostenlose Leseprobe in Form einer PDF-Datei finden Sie bei Interesse unter diesem Link.

Angenehme Lektüre!

Ihr

Michael Vaupel

Diplom-Volkswirt / M. A.

Michael Vaupel

"Fairness, Respekt vor Mensch und Tier sowie der gewiefte Blick für clevere Investment-Chancen - das lässt sich meiner Ansicht nach sehr wohl vereinen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir diese Ansicht gemeinsam vertreten werden - auch gegen den Mainstream."

Mehr über mich

You must be logged in to post a comment.