Roads not taken
Wenn ich in Berlin bin, gehe ich gerne ins dortige Deutsche Historische Museum. Da ich die Dauerausstellung inzwischen - mehr oder weniger - kenne, schaue ich natürlich, was es für Sonderausstellungen gibt.
Aktuell gibt es eine Sonderausstellung zu Wolf Biermann (was micht nicht brennend interessiert) - und eine mit dem altdeutschen Titel "Roads not Taken" (welche mich brennend interessiert).
In Letzterer geht es umum 14 Zäsuren deutscher Geschichte von 1848 bis 1989, bei denen es "auch anders hätte kommen können".
Solche kontrafaktischen historischen Gedankenspiele finde ich seit meiner Jugend äußerst interessant! Deshalb hätte ich eigentlich sehr gerne diese Sonderausstellung besucht. Doch da meine Gesundheit derzeit noch angeschlagen ist, ging das leider nicht.
Sie können sich denken, dass ich diese Ausstellung nicht erwähnen würde, wenn der Beitrag hier enden würde. Und so ist es: Denn der Beitrag geht weiter, dank eines exzellenten Begleitbuchs der Ausstellung, das brandaktuell im C.H. Beck Verlag erschienen ist.
Dieses Buch ist auch vollständig unabhängig vom Besuch der Ausstellung gut lesbar, was ich sozusagen in einem "Rutsch" getan habe. Denn die Thematik finde ich sehr fesselnd.
Der Aufbau des Buches ist klar strukturiert:
Die Autoren haben 14 Zäsuren der deutschen Geschichte von 1848 bis 1989 ausgewählt.
Da geht es dann in der Chronologie rückwärts, beginnend mit 1989.
Beispiele:
- Was wäre, wenn die DDR-Führung im Herbst 1989 Gewalt eingesetzt hätte?
- Was wäre, wenn 1961 die Berlin-Krise einen Atomkrieg ausgelöst hätte?
- Und was wäre, wenn sich die deutsche Kapitulation im Zweiten Weltkrieg verzögert hätte - und dann eine Atombombe auf Ludwigshafen gefallen wäre statt auf Hiroshima?
Um diese Zäsuren geht es:
Hier die Übersicht über diese 14 Zäsuren, die im Buch behandelt werden
Quelle: C.H. Beck Verlag
In der Einleitung (lesenswertes Interview mit Dan Diner) wird betont, dass es hier nicht in erster Linie um kontrafaktische Geschichtsschreibung gehen soll. Es wird also in der Regel nicht näher erläutert, wie es dann weitergegangen wäre.
Stattdessen soll dazu angeregt werden, nachzudenken, was damals auch im Raum stand und durchaus realistisch war.
Die Ausstellung - und auch das Buch, dank Abbildungen - bringt dazu Quellen zu den möglichen Alternativ-Szenarien.
Beispiel: Eine Ansprache des Bundeskanzlers, die in den 1960ern für den Fall eines Atomkriegs vorbereitet war...(wie gut, dass die nicht gebraucht wurde)
Als einziges gewisses Manko sehe ich die unterschiedliche Herangehensweise der zahlreichen Autoren des Bands. Denn gewiss, jede/r Autor hat seinen/ihren eigenen Stil. Doch manchmal wird auch vom Konzept abgewichen. Dann geht es weniger um den Moment, an dem es hätte anders sein können. Sondern manchmal kommt es eben doch zu einer kontrafaktischen Geschichtsschreibung. Wie wäre es weitergegangen, wenn das Misstrauensvotum gegen Brandt erfolgreich gewesen wäre...etc. pp.
Insgesamt...
Mein Fazit:
Für historisch Interessierte eine äußerst lesenswerte Neuerscheinung, die zu Gedankenspielen und Beschäftigung mit der Geschichte einlädt:
Fritz Backhaus, Dan Diner et al.: Roads not Taken - Oder: Es hätte auch anders kommen können
Eine kostenlose Leseprobe in Form einer PDF-Datei finden Sie bei Interesse unter diesem Link.
Mit herzlichem Gruß!
Ihr
Michael Vaupel
Diplom-Volkswirt / M.A.