Das Werden und Wirken eines Rebellen

Das Werden und Wirken eines Rebellen

Neulich fragte ich eine von mir hochgeschätzte Person der Zeitgeschichte (ich nenne keinen Namen), ob er nicht eine Autobiographie verfassen möchte. Die Antwort fand ich bemerkenswert, Zitat:

Ich habe nicht vor, mich auf die Gratwanderung zwischen Nabelschau und mitteilenswerten Erfahrungen/Einsichten zu begeben. Ich kenne dafür zu viele solche Bücher, die eigentlich nur peinliche Ego-Trips sind. Da möchte ich nicht landen. Und Integrität würde auch erfordern, Dinge (selbstkritisch) zu teilen, die eigentlich in der Privatsphäre von einem selbst und anderen bleiben sollten. Ausserdem möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass ich mich wichtig nehme.

Eine zu respektierende Meinung, die zugleich Bescheidenheit und eine gewisse Demut ausdrückt, was bei mir die Hochachtung vor besagter Person noch gesteigert hat.

Sie fragen sich vielleicht, wieso ich Ihnen das berichte. Guter Einwand - ich wollte gerade auf den Grund dafür zu sprechen kommen.

Denn wie es der Zufall will, habe ich gerade eine Autobiographie gelesen, welche genau die oben genannen Einwände nicht Wahrheit werden lässt. Denn diese Autobiographie ist alles andere als ein peinlicher Ego-Trip mit Selbstbeweihräucherung. Im Gegenteil, ich habe diese Autobiographie gerade mit Lesegenuss und Erkenntnisgewinn verschlungen.

Um dieses Buch geht es:

Gerhard Tötemeyer: Das Werden und Wirken eines Rebellen

Der Untertitel bringt auf den Punkt, um was es geht: Autobiographische und historische Notizen eines Deutsch-Namibiers.

Wer einen Überblick über die Biographie von Professor Tötemeyer haben möchte - hier der Link zum Wikipedia-Eintrag über ihn.

Ich für meinen Teil bin froh, seine Biographie vorher nur in Ansätzen gekannt zu haben - denn so konnte ich beim Lesen seiner Biographie regelrecht mitfiebern.

Warum ich seine Persönlichkeit so interessant finde:

Gerhard Tötemeyer wurde 1935 in Gibeon in Südwest-Afrika als Sohn eines Missionars geboren. Bei der Bescheibung seines Lebensweges gerät er geradezu zwangsläufig mit Themen wie Rassismus und Apartheid. Und immer wieder finden sich erstaunliche Wendungen in seiner Autobiographie, welche direkt mit der Weltgeschichte zusammenhängen.

Ein Beispiel: Als die Familie 1939 auf Urlaub nach Deutschland reist, wird wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs die Heimfahrt nach Afrika verpasst. Gerhard Tötemeyer bleibt den Krieg über in Deutschland. Die Schilderungen der Erfahrungen, die er als gebürtiger Afrikaner in Deutschland der Nazi-Zeit gemacht hat, kommen einem Kulturschock gleich. Harmlose Kindheitserinnerungen wechseln sich ab mit Schilderungen von Bombenangriffen und Angstzuständen.

Als er dann nach Südwestafrika zurückkehrt, hat er gewisse Probleme, da er zum Beispiel kein Afrikaans spricht. Den Rassismus der Weißen lernt er an Kleinigkeiten kennen. Beispielsweise freut er sich als Jugendlicher, der eine Lehre bei einem Kaufmann macht, dass einer der Kunden Deutsch spricht. Es handelte sich um einen einheimischen deutschsprechenden Nama, in der deutschen Kolonialzeit auch "Hottentotten" genannt. Er sprach ihn mit "Sie" an, für ihn gegenüber einem Erwachsenen selbstverständlich.

Als Gerhard Tötemeyer aber von Kollegen und anderen Weißen deshalb ausgelacht wurde, sprach er ihn später mit "Du" an. Der Nama namens Wilhelm sprach ihn an: "Vor einem Jahr hast du mich noch mit Sie angesprochen und mich dadurch geehrt. Schade, dass du dich so schnell geändert hast."

Diese Worte haben mich nachdenklich gemacht

...schreibt Gerhard Tötemeyer dazu. Wohlgemerkt: Das ist fast 70 Jahre her und meinem Eindruck zufolge wird durch solch kleine Anekdoten deutlich, wie sich Gerhard Tötemeyer zu dem entwickelt hat, was er "Rebell" nennt. Gewiss, Rebell gegen ein Unrechtssystem - insbesondere das von Südafrika eingeführte Apartheid-System. Ich persönlich sehe ihn ihm eher einen Kämpfer für das Gute. Nach der Lektüre der Autobiographie dachte ich im Hinblick auf den Lebensweg von Gerhard Tötemyer spontan an dieses Zitat, das ich mir vor Jahren einmal notiert hatte:

Erkenne, dass ohne das Böse weder Leben noch Welt existieren, und versuche dennoch, dieses Böse ohne Rücksicht zu bekämpfen und das Gute zu sehen und zu tun. – Benedetto Croce

Es folgt sein Studium in Stellenbosch in Südafrika - der Ort gilt als Hochburg der weißen Afrikaaner. Im Laufe der Kapitel wird deutlich, wie sich Gerhard Tötemeyer immer mehr politisiert hat. Dies jedoch nicht als Selbstzweck oder Geltungsbedürfnis, sondern aus dem Bedürfnis heraus, Unrecht nicht einfach zu akzeptieren. Auch Neutralität/Eskapismus ist da für ihn keine Option.

Es folgen höchst interessante Stationen - Lehrer in Windhoek, zwischenzeitlich Journalist, dann Tätigkeit als Dozent und Positionierung im Hinblick auf die Unabhängigkeitsbewegung im damaligen Südwest-Afrika, dem heutigen Namibia.

Gerhard Tötemeyer hat sich zu einer Person der Zeitgeschichte entwickelt, der in die USA eingeladen wird und durch seine Gespräche dort vielleicht sogar zur westlichen Kontaktgruppe beigetragen hat, die eine wichtige Rolle bei der Unabhängigkeit Namibias spielte.

Noch vor der Unabhängigkeit wurde Tötemeyer Dekan an der Universität in Namibia. Nach der Unabhängigkeit war er leitendes Mitglied der Gebiets-Abgrenzungskommission Namibias, welche die internen Grenzen festlegte.

Es folgten Tätigkeiten als Direktor der Wahlkommission Mitglied der Nationalversammlung und Vizeminister für Regional- und Kommunalverwaltung.

Auf einer Farm in Namibia

Quasi nebenbei war er auch Gründungsmitglied der Namibisch-Deutschen Stiftung für kulturelle Zusammenarbeit sowie als Berater für Wahlen afrikaweit aktiv.

Ich möchte an dieser Stelle nicht "spoilern", sondern deutlich machen, warum mir dieses Buch außerordentlich gut gefallen hat.

Denn Gerhard Tötemeyer versteht es meisterhaft, den persönlichen Lebensweg mit Zeitgeschichte zu verknüpfen. Hilfreich ist dabei auch, dass er einem neuen Kapitel seiner Autobiographie manchmal auch Vorbemerkungen über den zeitgeschichtlichen Rahmen voranstellt. Beispiele dafür sind "Die Lage der Südwesterdeutschen", "Der Afrikaner Broderbond", "Die westliche Kontaktgruppe".

So ist es auch für Personen, die sich mit diesen Aspekten nicht auskennen, gut möglich, den folgenden Ausführungen zu folgen.

Was ich an Professor Tötemeyer zudem sehr schätze...

...ist die Tatsache, dass er auch eigene Fehler nicht verschweigt. Gewiss gibt es da einige Punkte, bei denen sich im Sinne der Einleitung argumentieren ließe, sie sollten in der Privatsphäre bleiben. Ich denke da an eine Stelle in der Autobiographie, in welcher der Autor schildert, wie er einen Freund verdächtigte, für die Sicherheitspolizei Südafrikas zu arbeiten. Doch anstatt ihn direkt darauf anzusprechen, teilt er dies der Universitätsverwaltung mit, an der beide arbeiten. Ein Vertrauensbruch war die Folge.

Ich habe mir zahlreiche Stellen im Buch notiert - darunter zum Beispiel diese, der ich nach Möglichkeit nachstreben möchte:

Es wurde mir zur Aufgabe und Verpflichtung, Unrecht anzuprangern und gleichzeitig Wege zu einer friedlichen Lösung der bestehenden Konflikte zu finden.

Bei mir als kleinem Licht geht es da weniger um Zeitgeschichte als um den persönlichen Alltag oder auch die Dinge, die in der eigenen Kommune geschehen.

Erfreulicherweise schildert Gerhard Tötemeyer auch persönliche Aspekte - wie er seine Frau kennenlernte, seine Beziehung zu den Schwiegereltern, wie sich seine Kinder entwickelten.

Dabei lässt sich so manches Mal über die Weltläufte staunen oder auch schmunzeln. Beispiel der "Deutschlandurlaub" 1939 der Familie Tötemeyer. Da sie notgedrungen den Zweiten Weltkrieg in Deutschland verbringen mussten, hatte der älteste Sohn dort bereits eine Ausbildung begonnen. Er kehrte deshalb nicht nach Südwestafrika zurück, wie es Gerhard Tötemeyer tat.

Dieser ältere Bruder von Gerhard Tötemeyer hatte den Namen Hans-Günther Tötemeyer (er verstarb 2017 und möge in Frieden ruhen) und wurde in Deutschland Bundestagsabgeordneter. Faszinierend, wie die beiden sich später in Namibia trafen - der eine Bundestagsabgeordneter in Deutschland, der andere zwischenzeitlich Vizeminister in Namibia.

Mein Fazit: Wer an Zeitgeschichte im Allgemeinen und an der Geschichte des südlichen Afrika im Besonderen interessiert ist, für den ist diese Autobiographie des deutschsprachigen Namibiers Gerhard Tötemeyer ein echter Leckerbissen.

Das Leben und Wirken eines Rebellen. Autobiographische und historische Notizen eines Deutsch-Namibiers

Angenehme Lektüre und gesegnetes Advents-Wochenende!

Ihr

Michael Vaupel

Diplom-Volkswirt / M. A.

Michael Vaupel

"Fairness, Respekt vor Mensch und Tier sowie der gewiefte Blick für clevere Investment-Chancen - das lässt sich meiner Ansicht nach sehr wohl vereinen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir diese Ansicht gemeinsam vertreten werden - auch gegen den Mainstream."

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