Rezension: Boris Palmer – Erst die Fakten, dann die Moral

Rezension: Boris Palmer – Erst die Fakten, dann die Moral

Man bemüht sich ja, kein reiner Fachidiot zu sein. Und so war diese Woche in den Mittagspausen das neue Buch des Tübinger Oberbürgermeisters "Erst die Fakten, dann die Moral" meine Lektüre. Hier meine Einschätzung:

Boris Palmer stellt in seinem neuen Buch "Zehn Thesen über Politik und Wirklichkeit" auf.

Mir gefällt es sehr gut, dass diese gewissermaßen Klartext sind. Das vermisse ich oft genug bei "den Politikern" (diese Pauschalisierung geht mir indes gegen den Strich) mit gestanzten Worthülsen und Satzbausteinen.

Den Thesen vorangestellt ist ein Zitat von Kant:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.

Man sollte denken, dass im Sinne der Aufklärung Entscheidungen faktenbasiert getroffen werden. Das ist laut Ansicht von Boris Palmer (und mir) indes keineswegs immer, noch nicht einmal besonders häufig, der Fall. "Hysterische Scheindebatten und quasi-religiöse Gedankengebäude haben die sozialen Medien begünstigt oder entfesselt", so Boris Palmer.

Zu Beginn des Buchs verweist Boris Palmer auf einen von Kurt Schumacher geprägten und Erwin Teufel oft verwendeten Satz:

Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.

Klingt banal - doch es lohnt sich durchaus, darüber nachzudenken. Denn "Politik beginnt allzu oft gerade nicht mit dem Betrachten der Wirklichkeit".

Boris Palmer hingegen nimmt für sich in Anspruch, in seinem Amt als Oberbürgermeister von Tübingen genau das zu tun - zunächst die Wirklichkeit zu betrachten. Er sucht dann nach rationalen Lösungen und lässt sich nicht von vorneherein aufgrund seiner Parteizugehörigkeit in eine Richtung drängen. Das macht ihn natürlich bei denjenigen, die Gruppenloyalität höher bewerten als unabhängiges Denken, nicht besonders beliebt.

In dem Buch gibt es diverse konkrete Beispiele zu Themenkomplexen aus der politischen Praxis. Es hat mir Freude gemacht, da meine eigenen Ansichten mit denen von Herrn Palmer zu vergleichen. Beispiel Wohnungsproblematik. In Tübingen fehlt Wohnraum, die Mieten und Grundstückspreise sind explodiert. Ich selbst dachte mir da - als sozialer Kapitalist mit ökologischem Gewissen, oder etwas in der Art - klarer Fall von Angebot und Nachfrage. Eine Mietpreisbremse würde nicht helfen, denn dann wird tendenziell weniger in neue Wohnungen investiert.

Mittagspause = Lesezeit

Ein typischer Fall von urteilen, ohne sich vorher mit der Realität auseinander gesetzt zu haben. Herr Palmer schildert in dem betreffenden Kapitel, dass z.B. in Tübingen die Bauämter überlastet sind und es in den kommenden Jahren auch bei Abschaffung der Grunderwerbsteuer wohl kaum mehr Neubauten geben würde. Er plädiert deshalb für einen befristeten Stopp (5 Jahre) bei Mieterhöhungen und dafür, dass die Besitzer von jahrzehntelang brachliegendem Bauland dazu verpflichtet werden können, dort zu bauen. Das ist natürlich ein Eingriff in das persönliche Eigentum, aber da gilt es laut Palmer abzuwägen.

Dies nur als Beispiel. Oder die Flüchtlingsfrage. Auch da plädiert er für das Betrachten der Realität, anstatt auf dem hohen Ross der eigenen moralischen Überlegenheit zu reiten und andere Ansichten als unethisch abzutun. Er zitiert dazu zwei einfache Sätze: "Du bist kein schlechter Mensch, nur weil du dir Sorgen machst wegen der Migration." Und: "Du bist auch nicht naiv, wenn du anderen Menschen helfen willst, ein besseres Leben zu haben."

Wenn eine Seite unterdrückt wird, weil z.B. festgelegt werden soll, was im politischen Diskurs "sagbar" ist = These (siehe Mainstream-Medien wie Spiegel, das "Zentralorgan des Halbreflektierten" laut Ernst Molden), dann kommt es fast zwangsläufig zu einer Anti-These. Das ist durchaus notwendig, um zu einer Synthese zu kommen.

Boris Palmer lässt die Leser/innen in seinem Buch an diversen Entscheidungsprozessen in seinem Amt teilhaben. Dabei finde ich es bemerkenswert, dass er z.B. die Konfrontation mit Demonstranten geradezu sucht. Interessant finde ich auch das Kapitel zur Frage, ob ein Gewerbegebiet in einem Gebiet mit einem alten Brunnen gebaut werden soll. Boris Palmer zählte diverse gute Gründe dafür auf - und sah sich mit massivem Widerstand konfrontiert. Er entschloss sich zu einer Bürgerbefragung, die das Ergebnis zeigte: Eine Mehrheit ist gegen das Gewerbegebiet an dieser Stelle.

Interessanterweise schwenkte Palmer nun umgehend um auf die zweitbeste Lösung, bei der die Kritiker einverstanden waren. Auch wenn er selbst weiterhin der Ansicht war, dass das ursprünglich geplante Gewerbegebiet die bessere Lösung sei. Doch, Zitat: "Der Schaden am Zusammenhalt der Stadtgesellschaft wäre durch eine Aufgabe des Wasserschutzgebietes in der Au mit einer knappen Mehrheit erheblich gewesen. Ich bin daher rückblickend sogar froh, dass ich mit meinen Argumenten in der Sache nicht noch einige Menschen mehr überzeugt habe, denn das hätte uns für viele Jahre großen Streit beschert."

So aber: Einstimmige Entscheidung des Gemeinderates für die aus Sicht von Palmer zweitbeste Lösung.

Einen Oberbürgermeister mit dieser Einstellung und Reflexionsfähigkeit und gleichzeitig klaren Sprache hätte ich auch gerne. Nun, vielleicht nach Tübingen ziehen - doch es soll nicht leicht sein, da eine schöne Wohnung zu fairem Preis zu finden (siehe oben).

Aus meiner Sicht unbedingt lesenswert für diejenigen, die sich für bundesdeutsche Politik interessieren:

Boris Palmer: Erst die Fakten, dann die Moral

Und hier noch das Zitat zum Tag:

"Ich bin nicht links! Ich bin nicht rechts! Ich denke selber!"

- Unbekannt

Mit herzlichem Gruß!

Ihr

Michael Vaupel

Diplom-Volkswirt/ M.A.

Michael Vaupel

"Fairness, Respekt vor Mensch und Tier sowie der gewiefte Blick für clevere Investment-Chancen - das lässt sich meiner Ansicht nach sehr wohl vereinen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir diese Ansicht gemeinsam vertreten werden - auch gegen den Mainstream."

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