Rezension „Der Rufer aus der Wüste“

Rezension „Der Rufer aus der Wüste“

Gelegentlich höre ich den Spruch "In meiner Jugend war alles anders". Und ich als jemand, der im Wesentlichen in den 1980ern aufgewachsen ist, habe dies - natürlich - auch bereits gedacht.

Der Autor Chaim Noll hingegen sieht es anders. Er sieht vielmehr einen Prozess der Verjüngung - der allerdings aus seiner Sicht unheimlich ist. Denn vieles erinnert ihn laut einer Aussage in seinem Buch an seine Jugend.

Damit bezieht er sich allerdings nicht auf Wein, Weib und Gesang (analog Sex, Drums, Rock´n Roll...), sondern auf seine Jugend in Ostberlin. Denn geboren wurde Chaim Noll 1954 als Hans Noll im damaligen Ost-Berlin, Hauptstadt der DDR.

Die dortige damalige politische Lage gefiel ihm keineswegs - so berichtet er zum Beispiel von "wachsendem Misstrauen gegenüber einer selbstgerechten Staatsmacht". Und auch "das Vergnügen, ein Außenseiter zu sein".

Und wieso erinnert ihn die heutige Lage - in der BRD, wohlgemerkt - wieder an seine Jugendzeit? Dazu später mehr.

Zunächst einige Anmerkungen zur persönlichen Biographie von Chaim Noll. Aufgewachsen in Ost-Berlin, in den 1980ern als Regime-Gegner in die BRD übergesiedelt. Mit einer Zwischenstation in Italien dann Mitte der 1990er nach Israel ausgewandert.

Er arbeitet als Journalist und Schriftsteller und ist mir durch einige kluge, manchmal durchaus düstere Kommentare aufgefallen.

Der Autor Chaim Noll. Quelle: Verlag

Ich finde seinen Blick "von außen" auf die aktuelle Lage der Bundesrepublik insofern interessant finde, da...

  • ...Chaim Noll gewissermaßen ein "Hybrid" ist: In der DDR aufgewachsen, einige "goldene Jahre" der BRD mitbekommen, seit über 25 Jahren in Israel lebend...
  • ...deshalb eine interessante Perspektive und persönliche Erfahrung besitzt
  • ...und es versteht, pointiert und gut zu schreiben
  • ...zudem sich nicht scheut, eigene Thesen, die dem Mainstream widersprechen, geradezu vergnügt zu Papier zu bringen

Und da er auch noch wie ich selbst ein Wüsten-Liebhaber ist, habe ich sein vorigen Monat erschienenes Buch "Der Rufer aus der Wüste" umgehend gelesen.

Was mir direkt auffiel: Das Buch ist keine zusammenhängende Ausführung seiner Ansichten und Gedanken. Vielmehr sind hier bereits veröffentlichte Kommentare von Chaim Noll zusammengefasst, ich glaube hauptsächlich aus der Zeit 2019 bis 2021.

Ein Kernthema für ihn ist offensichtlich das Eintreten für freie Debattenräume.

Und damit rennt er bei mir offene Türen ein.

Denn es geht mir gewaltig gegen den Strich, wenn es in meinem Bekanntenkreis auf einmal wichtig ist, "Haltung zu zeigen" und auf Twitter zu hyperventilieren in selbstgerechter Pose. So sind "Diversity-Freunde" bei der Abgrenzung von Bevölkerungsschichten gegeneinander aktiv und feiern sich selber dafür.

Da ist mir ein Autor wie Chaim Noll schon aus intellektueller Sicht lieber. Er wirkt auf mich wie ein wenig aus der Zeit gefallen, was in diesem Fall aber positiv gemeint ist. Auf verlorenem Posten, hätte ich beinahe geschrieben - aber diese Bezeichnung hat bereits ein Werk des von mir geschätzten Nicolás Gómez Dávila (hier sein Wikipedia-Eintrag).

Chaim Noll erinnert mich zudem an einen einsamen Rufer in der Wüste - und insofern finde ich seinen gewählten Buchtitel "Der Rufer aus der Wüste" überaus passend. (Nicht zu verwechseln mit dem Roman "Ein Rufer in der Wüste").

Das Leitmotiv in den jeweils recht kurzen Kapiteln (meist 2-4 Seiten) ist meinem Eindruck zufolge die Meinungsfreiheit odre bildungssprachlicher ausgedrückt, das Eintreten für freie Debattenräume.

Zu einem Teilaspekt zitiere ich Noll: „Merkel hat durch demonstratives Abstrafen von Islamkritikern in Deutschland eine Atmosphäre angstvollen Schweigens geschaffen.“

Außerdem ist Chaim Noll offensichtlich kein Freund der Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Unabhängig davon, wie man zu diesen Maßnahmen steht - alleine, wie Chaim Noll die Behördensprache zerlegt, lässt grimmig lächeln oder weinen oder beides gleichzeitig.

Alleine das Wort "Infektionsschutzmaßnahmenverordnung".

Und Wortketten wie "Nichtgewährleistung der Einhaltung der zulässigen Teilnehmerzahl" lassen nicht nur bei ihm Erinnerungen an DDR-Sprech aufkommen. Da braucht er gar nicht mehr hinzufügen, dass in Berlin laut aktuellem Bußgeldkatalog laut Noll das "Singen in geschlossenen Räumen" in Zeiten der Pandemie zwischen 25 und 500 Euro Bußgeld kostet.

Noll greift in seinem Buch auch andere Themen auf.

Zum Nachdenken hat mich zum Beispiel das Kapitel "Die Rückkehr des Menschenopfers" gebracht. Wer eine Meinung abseits der politischen Korrektheit vertritt, wird heutzutage manchmal sozial isoliert. "Cancel Culture" heißt das beschönigend.

Wie in früheren Zeiten gibt es "Menschenopfer" - nun nicht mehr blutig, aber mit sozialer "Hinrichtung". Noll nennt zum Beispiel Annalena Baerbock, die mit vibrierender Stimme den "Parteiausschluss des Außenseiters Boris Palmer fordert".

Das Buch ist kurzweilig zu lesen und hat mir einige Denkanstöße gebracht. So konnte ich meine eigenen Ansichten an den klaren Thesen des Autors messen und überlegen, wie ich zu dem jeweiligen Thema stehe. Und wenig überraschend kam ich manchmal zum Ergebnis Zustimmung - und manchmal zum Ergebnis Ablehnung.

Wenn ein Buch das schafft, hat es bei mir schon einmal Pluspunkte.

Für politisch Interessierte Zeitgenossen mit Lust auf intelligente, manchmal bissige und manchmal durchaus resignierende Texte sei dieses Buch empfohlen:

Chaim Noll: Der Rufer aus der Wüste

Angenehme Lektüre!

Ihr

Michael Vaupel

Diplom-Volkswirt / M.A.

Michael Vaupel

"Fairness, Respekt vor Mensch und Tier sowie der gewiefte Blick für clevere Investment-Chancen - das lässt sich meiner Ansicht nach sehr wohl vereinen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir diese Ansicht gemeinsam vertreten werden - auch gegen den Mainstream."

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