Rezension: Die Entdeckung der Welt
Was für eine schöne Neuerscheinung! Neulich blätterte ich durch ein Exemplar des großformatigen Bildbandes Die Entdeckung der Welt
Der Untertitel des Werkes gibt an, um was es geht: Frühe Reisephotographie von 1850 bis 1914.
Beim Betrachten der Bilder wurde ich ein wenig wehmütig. Heutzutage lassen sich in Sekundenschnelle im Internet zu fast jeder Touristenattraktion der Welt Bilder finden. Wer vor Ort ist, knipst in Sekundenschnelle mit dem Smartphone ein "Selfie", um dann vielleicht die eigenen "social media accounts" damit zu füllen und auf "likes" zu hoffen.
Ganz anders in der Zeit, in der es hier geht. Da war es für den Fotografen notwendig, umfangreiche Ausrüstung mitzunehmen ("Chemikalien, Kamera, Entwicklungssalen"). Statt fokussieren und klicken gab es zumindest in der Anfangsphase des genannten Zeitraums lange Belichtungsphasen. Und die Entwicklung erforderte natürlich Dunkelheit - z.B. bei einer Ägyptenreise damals kein leichtes Unterfangen.
In der gut gemachten Einleitung erfährt der Leser einiges über die Geschichte der Fotographie. So war mir bereits vor Jahren aufgefallen, wie überraschend scharf Bilder des 19. Jahrhunderts sein können - die mit der sogenannten Daguerreotypie (hier mehr dazu bei Wikipedia, schauen Sie sich mal bei Interesse die dortigen Daguerreotypie-Bilder an) angefertigt worden sind. Die Qualität ist erstaunlich gut, doch das waren Einzelstücke, üblicherweise auf einer versilberten Kupferplatte.
Erst als der Brite William Henry Fox Talbot ein Verfahren zur Herstellung von Negativen entwickelte, kam es zum Durchbruch in der Fotographie. Das wird am Rande im Buch thematisiert, erfreulicherweise gut verständlich auch für fotographische Laien wie mich.
Das Herzstück des Bildbandes sind aber wenig überraschend die Bilder. Und die haben einen ganz eigenen Charme, laden zum Schmökern und zum Bewundern ein. Ob "eine deutsche Expedition durch die Wüste Lybiens" in den 1870ern oder "Auf Forschungsmission am Kap Hoorn" in den 1880ern: Diese Bilder haben es in sich.
Was für eine andere Welt...landschaftlich gewiss ähnlich wie heute, sofern es um die wilde Natur geht. Doch was hat sich in der Zeit alles geändert! Die Interaktion der Fotographen mit den "Eingeborenen" wird bildlich deutlich. Da schauen "Feuerländer" halbnackt in die Kamera, zweifelnd, irritiert, neugierig. Auf Neufundland posieren einige Fischer für das Foto. Und ein turkmenischer Reiter sitzt hoch zu Ross "am Rand des Russischen Reichs" in Zentralasien.
Was für eine Zeit, und was für schöne Zeitzeugnisse diese Fotographien im Bildband sind. Fast fühle ich mich in die Zeit versetzt und ahne, wie im Bildungsbürgertum ein Interesse an solchen Fotographien an "exotischen" Reisezielen bestand. Und wahrscheinlich gab es einen sportlichen Ehrgeiz der Fotographen, möglichst exotische Orte der Welt aufzusuchen, um sie zu fotographieren. Man mag dann vielleicht nicht der erste Reisende dort aus Europa gewesen sein - aber der erste Reisende, der dort photographiert hat und dies den Daheimgebliebenen zeigen kann.
Die Bilder stehen hier klar im Vordergrund, die dazu gehörigen Erläuterungen finde ich von der Länge her angemessen.
Lobend erwähnen möchte ich noch das Vorwort von Freddy Langer. Einige seiner Sätze haben mich innehalten lassen, da ich erst einmal über sie nachdachte (zum Beispiel das Zitat unten). Und über solche Gedankenanstöße bin ich üblicherweise dankbar.
Ein faszinierender Blick auf die Welt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - möglich mit diesen rund 230 Bildern. Aus meiner Sicht ein Augenschmaus:
Oliver Loiuseaux, Gilles Fumey: Die Entdeckung der Welt
Eine kostenlose Lese-/Betrachtungs-Probe des Buches finden Sie direkt beim Verlag unter diesem Link.
Mit freundlichem Gruß!
Ihr
Michael Vaupel
Diplom-Volkswirt / M.A.
Womöglich täte es manchem gut, dann und wann genauer hinzuschauen, sich dem Motiv anzunähern, fast kontemplativ - statt mit dem Mobiltelefon im Sekundentakt seelenlose Bilder aufzunehmen. Die Fotografie hat die Wahrnehmung der Welt demokratisiert. Aber sie hat ihr nicht die Seele geraubt. Das haben wir selbst getan.
- Freddy Langer