Rezension: Empires
Von Zeit zu Zeit denke ich mir: Das Leben ist zu wertvoll, um dünne Bücher zu lesen. Dann nehme ich mir einen "dicken Schmöker", vorzugsweise an einem verregneten Wochenende, und ein Heißgetränk dazu. Und dann mache ich mich an die Lektüre.
In meiner Jugend las ich dann gerne Dostojewski...heute war es lieber ein Sachbuch, das spannend geschrieben mir Informationen zur Kolonialgeschichte lieferte.
Auf diese Neuerscheinung "Empires" bin ich aufmerksam geworden, weil einer der beiden Autoren (= Jörn Leonhard) von mir sehr geschätzt wird wegen seiner Publikation zum Versailler Vertrag ("Der überforderte Frieden", hier meine Rezension dazu).
Das Buch behandelt den Zeitraum 1780 bis 1920 und ist - anders als der Titel suggeriert - eine globale Geschichte des Aufbaus der damaligen Imperien.
Der Titel "Empires" hatte bei mir zunächst zu der Illusion geführt, dass es primär um die Geschichte des britischen "Empire" geht. Doch keineswegs: Etwas hanebüchen aus meiner Sicht erläutern die Autoren, dass sie den englischen Titel "Empires" gewählt haben, weil der Begriff "Imperium" im deutschen Sprachraum zu sehr mit dem Römischen Imperium assoziiert wird.
Sei es drum - im deutschen Sprachraum ist es ja (leider) ohnehin derzeit angesagt, englische Wörter zu verwenden für Dinge, die sich auch sehr gut auf Deutsch ausdrücken lassen.
Doch konkret zum Buch. Der derzeitige Ukraine-Krieg hat einige Begriffe wieder in aktuelle Diskussionen gebracht, die ich eigentlich für längst "überholt" gehalten hatte. Konventionelle Streitkräfte, Panzer, Siedlungsgrenzen, Angriffskrieg, Bündnispartner - man könnte denken, wir befinden uns wieder in den Jahren 1914-1918.
Erfreulicherweise beginnt das Buch ungefähr im Jahr 1780 und damit in der Aufbauphase mehrerer Imperien der Neuzeit. Konkret geht es um das Britische Weltreich, Russland, Frankreich, auch das Osmanische Reich sowie das Deutsche Reich kommen vor.
Dabei folgt das Buch aber nicht einier konventionellen Deskription im Sinne einer Geschichte der Ausbreitung mit Jahreszahlen. Stattdessen haben die beiden Autoren (neben dem genannten Jörn Leonhard ist dies Ulrike von Hirschhausen) äußerst interessante Themen ausgewählt.
Ein Teil des Inhaltsverzeichnisses
Quelle: C. H. Beck
Mich hat z.B. das Thema Infrastruktur der Imperien richtig mitgerissen (Kapitel "Imperiale Infrastrukturen: Globale Vekehrswege und örtliche Eigenlogik").
Da ging es um Dinge wie den Bau der Hedschas-Bahn, der Transsibirischen Eisenbahn oder des Suez-Kanals.
Auch, weil hier teilweise auch wirtschaftliche Aspekte mit hineinspielten. So sah die Planung für den Bau des Suez-Kanals die Gründung einer Aktiengesellschaft vor, die Autoren schildern dazu die Entwicklungen im Aktionariat.
Einschub: Das erinnerte mich direkt an die derzeitige Betreibergesellschaft des Tunnels zwischen Frankreich und Großbritannien. Diese Betreibergesellschaft namens "Getlink" ist ebenfalls börsennotiert, ein Großteil der Aktien liegt in britischen und französischen Händen. Das Unternehmen und die Aktie habe ich mir vor einiger Zeit angeschaut im Hinblick auf ein mögliches Investment.
Das Spannende beim Kapitel zur Infrastruktur im Buch "Empires": Manchmal führte ebendiese Infrastruktur zu für die Kolonialmacht völlig unerwarteten Ereignissen. Beispiel Transsibirische Eisenbahn: In der russischen Revolution 1905 (die "kleinere" Revolution) streikten auch die Eisenbahner, und sie nutzten die Eisenbahnen, um Delegationen in entfernte Provinzen zu senden, die dann an den Bahnhöfen über die Entwicklung in den Städten informierten und so auch einen Teil der Landbevölkerung politisieren konnten.
Beispiel Hedschasbahn. Da sah sich die Osmanische Führung mit Sabotageakten und Angriffen von Beduinen auf die Hedschasbahn konfrontiert - weil diese Beduinen Eingriffe in ihre relative Selbständigkeit befürchteten und auch Einnahmequellen verloren (zuvor waren sie als Führer von Kamelkarawanen durch diese Gegend gefragt).
Oder Beispiel Suezkanal: Da streikten Ende des 19. Jahrhunderts die multikulturelle Arbeitnehmerschaft (Italiener, Ägypter, Franzosen,...) und drohte mit der Versenkung der Schwimmbagger, welche die Fahrrinnen freihielten. Da lenkte die Unternehmensleitung schnell ein...
Im Buch werden auch schillernde Persönlichkeiten beschrieben, die gewissermaßen fluid zwischen den Grenzen von Kolonialherren und Kolonisierten wanderten. Als Beispiel werden indische Schriftgelehrte genannt, welche Steuerregister führten und die gewonnenen Erkenntnisse zu eigenen lukrativen Geschäften nutzten. Waren sie nun "Opfer", "Kollaborateure", "Opportunisten", oder "multikulturelle Grenzgänger"?
Hatte das Konzept eines supranationalen Imperiums mit rechtlicher Gleichheit der Bewohner (wie in Österreich-Ungarn) deutliche Vorteile gegenüber einem Nationalstaat der damaligen Zeit?
Das Buch liefert keine einfachen Antworten, sondern regt zum Nachdenken über solche Fälle an - was ich sehr geschätzt habe.
Punktuell prüfe ich bei solchen Sachbüchern einige Sachangaben nach, um mich selbst von der Seriösität der Autoren zu überzeugen. Dieser Test fiel hier äußerst zufriedenstellend aus. Mir fiel nur eine Kleinigkeit auf - im Buch ist von der Kaaba in Medina die Rede, selbige befindet sich meines Wissens nach aber in Mekka.
Mein Fazit: Für historisch Interessierte ein Leckerbissen!
Gut 600 Seiten (und über 100 Seiten Anmerkungen) prall gefüllte und gut lesbare Informationen zum Thema Imperien der Jahre 1780 bis 1920...für mich war es ein intellektueller Lesegenuß par excellence. Abgerundet wird das Buch durch einige interessante Karten sowie durch zeitgenössische Fotographien, zum Beispiel eines Zulukönigs während seines Besuchs in London.
von Hirschhausen/Leonhard: Empires
Eine kostenlose Leseprobe in Form einer PDF-Datei finden Sie bei Interesse unter diesem Link.
Mit herzlichem Gruß!
Ihr
Michael Vaupel
Diplom-Volkswirt / M.A.
Ihr Autor mit einem Franzosen und einem US-Amerikaner an einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs (Hartmannswillerkopf im Elsass)