Rezension: Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube

Rezension: Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube

"Die gute alte Zeit" - mit diesem Begriff verbinde ich persönlich Europa in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Insofern habe ich gerade mit Interesse die aktuelle Neuerscheinung Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube gelesen. Der Untertitel "Europa 1850 - 1914" gibt an, um welchen Zeitraum es geht. Der Autor Johannes Paulmann ist Direktor des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, erschienen ist das neue Buch beim renommierten C.H. Beck Verlag. Vielversprechende Eckdaten.

Hier meine Anmerkungen:

Das Buch wird vom Verlag als "Synthese" bezeichnet - und das bringt es recht gut auf den Punkt. Denn hier werden mehrere Elemente zu einer neuen Einheit - dem vorliegenden Buch - zusammengefügt. Europa im Zeitraum 1850 - 1914 wird vom Autoren unter unterschiedlichen Aspekten betrachtet.

Da ist zum einen die demographische Entwicklung - üblicherweise stiegen die Bevölkerungszahlen europäischer Staaten im genannten Zeitraum stark an (Ausnahme Irland, Stichwort Hungersnot). Es war eine Zeit der massiven wirtschaftlichen Umbrüche. Auch die Kommunikationsmöglichkeiten wurden revolutioniert. Ein Beispiel: Laut dem Autoren benötigte ein Brief von London nach Indien im Jahr 1830 fünf bis acht Monate. Bis zum Eintreffen einer Antwort konnte so ein Jahr vergehen. Um 1850 verkürzte sich die Zustelldauer einer Depesche von London nach Indien auf einen Monat. Und 1870 dann konnte eine Nachricht "per elektromagnetischem Telegrafen innerhalb von fünf Stunden" über die genannte Entfernung zugestellt werden.

So weit, so interessant, allerdings durchaus bekannt. Die Stärke des Buches liegt meiner Ansicht nach zum einen darin, einen guten Überblick über die Epoche zu geben, unter diversen Blickwinkeln.

Beispiel Besteuerung. So fand ich es recht interessant, dass im 19. Jahrhundert zeitweise eine Ertragssteuer "für erwartbare, durchschnittliche Erträge aus Grundbesitz, Gebäuden und Gewerbe" bestand. Nach dem Motto: Mit diesem Grundbesitz könnten Sie in etwa soviel Einnahmen erzielen, das ist die Grundlage der Besteuerung.

Eine Anpassung gab es "nur in größeren zeitlichen Abständen". Das gefiel dem liberalen Bürgertum, denn bei einer Zunahme der Einnahmen blieb die Besteuerung dennoch konstant. Und es hatte den Nebeneffekt, dass so eine "Offenlegung der Einkommensverhältnisse" umgangen wurde. Zudem lag der Anteil der indirekten Steuern (z.B. für Salz oder die berühmte Sektsteuer) relativ gesehen höher als der Anteil der direkten Steuern.

Der Autor kommt erfreulicherweise zu starken Bewertungen, die ich indes nicht unbedingt teile, wie diese hier, Zitat: "Bismarcks Tricks, Intrigen und seine geheimen Aktionen verunsicherten die europäischen Gegenüber. Dadurch wurde das Vertrauen in die deutsche Politik zu einem gewissen Grad bereits erschüttert (...)". Ich persönlich sehe das durchaus anders und hätte mir gewünscht, dass Bismarck noch ein paar Jahre lang Reichskanzler geblieben wäre - oder zumindest Staatssekretär des Äußeren. Aber solche gegenteiligen Ansichten bringen den Leser dazu, die eigenen Positionen gedanklich zu überprüfen, was mir durchaus gefällt.

Einen sachlichen Fehler fand ich - so musste Japan nach dem russisch-japanischen Krieg von 1905 keineswegs den Süden der Insel Sachalin räumen, wie es auf Seite 391 heißt - denn Japan wurde im Gegenteil dieses zuvor russische Territorium zugesprochen.

Dann möchte ich noch einen Punkt ansprechen, der mir bei der Lektüre des Buches nicht zugesagt hat. Ich finde es nicht besonders gut lesbar. Leider gibt es gerade unter deutschsprachigen Historikern (bin ja selber einer) die Angewohnheit, in langen Sätzen mit Einschüben zu schreiben. So fand ich auch hier Sätze wie diesen, Zitat:

"Der gleichsam verabsolutierte Zugang zur Welt, zu Natur und Gesellschaft, durch empirisch-gesetzmäßige Wissenschaft war in den Disziplinen, zwischen ihnen und in der intellektuellen Debatte nicht unumstritten, sondern bildete ein Kennzeichen der widersprüchlichen Auffassungen, die am Ende des 19. Jahrhunderts kulturelle Gewissheiten infrage stellten".

Sätze wie dieser haben mir die Lektüre dieser ansonsten lesenswerten Neuerscheinung etwas verleidet.

Eine kostenlose Leseprobe finden Sie unter diesem Link.

Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube

Viele Grüße & schönen Feierabend,

Ihr

Michael Vaupel

Diplom-Volkswirt / M.A.

 

Michael Vaupel

"Fairness, Respekt vor Mensch und Tier sowie der gewiefte Blick für clevere Investment-Chancen - das lässt sich meiner Ansicht nach sehr wohl vereinen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir diese Ansicht gemeinsam vertreten werden - auch gegen den Mainstream."

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