Rezension: Systemausfall
Im Kontext der anstehenden Europawahl habe ich die Neuerscheinung Systemausfall des Europaparlaments-Abgeordneten Bernd Lucke gelesen. Laut Lucke sollte „gerade der, dem an der EU und der europäischen Idee gelegen ist, aufdecken, was falsch läuft, und zeigen, wie es besser geht“. Genau das sei die Absicht des Buchs. Da war ich neugierig, denn das klingt nach Klartext.
Vorab: Das Buch ist keine ausgewogene Darstellung der EU, wie der Autor selber zu Beginn klarstellt. Denn die „lichten Seiten der EU werden oft genug beleuchtet“. Insofern geht es hier um konstruktive Kritik.
Und da rennt der Autor bei mir – einem überzeugen Europäer – offene Türen ein. So kann auch ich z.B. über Jean-Claude Junckers vielzitiertes Wort „Wenn es ernst wird, muss man lügen“ nur den Kopf schütteln. Das sind nicht die europäischen Werte, für die ich einstehen möchte.
Oder dieser Punkt: Bei Einführung des Euro Bundesregierung „fest versprochen, dass Deutschland nie für die Schulden anderer Staaten zahlen müsste“. Dieses Versprechen war seit 2010 Makulatur.
Der rote Faden in Luckes Buch ist die Unterscheidung der Begriffe Systemausfall und Kontrollverlust und dann das Aufzeigen konkreter diesbezüglicher Fälle im Kontext der EU.
Große Krisen der vergangenen Jahre – Euro-Krise, Flüchtlingskrise – werden allgemein eher als „höhere Gewalt“ dargestellt, die Politik habe dann schnell reagieren müssen.
Laut Lucke waren die genannten Fälle ein Kontrollverlust, der eine längere Vorgeschichte hatte, die üblicherweise zu einem Systemausfall führte.
Beispiel Euro-Krise. Lucke verweist auf Artikel 126 des AEU Vertrages, wonach klare Höchstgrenzen für Neuverschuldung und Schuldenstand der Euro-Staaten vorgesehen sind. In den zehn Jahren VOR Beginn der Euro-Krisen (Griechenland 2009) kam es laut Lucke insgesamt 65mal zu Verstößen gegen Artikel 126. Nicht in einem Fall wurden Bußgelder verhängt.
Auch nach der Euro-Krise wurden trotz weiterer 64 Verstöße im Zeitraum zwischen 2010 und 2017 nur zwei Mal „Sanktionen“ verhängt. Allerdings mit einer Höhe der Strafzahlungen von „0“.
Neulich, als ich bei der Hauptversammlung der A.S. Creation war, bekam ich einen Strafzettel, weil ich keinen Parkschein gezogen hatte (mea culpa). Insofern habe ich bereits damit mehr Bußgeld bezahlt als alle EU-Staaten zusammen im Zeitraum 2000 bis 2017 wegen Verstößen gegen Artikel 126 des EU-Vertrages.
Laut Lucke war das der „Systemausfall“ – und damit wurden natürlich völlig falsche Anreize gesetzt. Kein Wunder, dass es dann später zur Euro-Krise kam, die ja im Grunde eine Staatsschuldenkrise war/ist. Und das war dann der „Kontrollverlust“.
Der dann folgende hektische Aktionismus und die angebliche „Alternativlosigkeit“ und Übertragung von „ungeheurer Macht“ an den Stabilitätsmechanismus sieht Lucke äußerst kritisch, und da kann ich ihm nur beipflichten. Ich möchte noch anmerken, dass ich es ein Unding fand, dass die Abgeordneten über solche weitreichenden Beschlüsse in kürzester Zeit entscheiden sollten, wo z.B. ein ausführliches Studium der Vorhaben gar nicht zeitlich möglich war.
Lucke führt weitere Punkte an, wie den Bruch der Nichtbeistandsklausel etc. pp., und nicht zuletzt erläutert er die Positionen Großbritanniens und einiger osteuropäischer Staaten in der EU, was ich als erfrischenden Perspektivwechsel ansehe.
Gut gefällt mir auch der klare Schreibstil Luckes und der Verweis auf die griechische Mythologie, um aktuelle Entwicklungen mit geschichtlichen Analogien anschaulich zu erklären. Dabei verweist er z.B. auf Laokoon, der die Trojaner warnte (in Luckes Worten: Er bemerkte den Systemausfall, bevor es zum Kontrollverlust kam).
Mir persönlich gefällt es weniger, wenn Lucke an dieser Stelle stichelt: „Wenn er nicht, wie Laokoon, einer Schlange zum Opfer fällt. Aber lassen wir Frauke Petry aus dem Spiel.“ Das sieht für mich nach „nachtreten“ aus, was ich generell nicht mag.
Ansonsten aber finde ich diese Neuerscheinung im Hinblick auf konstruktive Kritik an der Europäischen Union lesenswert:
Mit herzlichem Gruß!
Ihr
Michael Vaupel
Diplom-Volkswirt