
Rezension: Die Straßen der Lebenden
Neulich hatte ich ein bisschen Stress - und gerade dann gilt es, durchzuatmen und sich auch einmal eine Auszeit für die Seele zu gönnen. Das tat ich des Abends mit einem Glas Whisky und dem Buch Die Straßen der Lebenden von Helge Timmerberg.
Seitdem ich im Mai das erste Mal etwas von diesem Autoren gelesen hatte (hier mein Beitrag zu Timmerbergs Reise-ABC), wollte ich unbedingt dieses Buch mit dem Untertitel "Storys von unterwegs" lesen. Dies ist nun geschehen - hier meine Einschätzung:
Zuerst eine Vorbemerkung: Wenn Sie Timmerberg lesen, sollten Sie grundsätzlich Gonzo-Journalismus mögen. Bei dieser Kategorie stellt der Journalist nicht vermeintliche Objektivität, sondern sein eigenes Erleben und damit höchste Subjektivität in den Vordergrund. Das kann für meinen Geschmack durchaus in uninteressante Nabelschau oder Selbstbeweihräucherung abgleiten - oder in höchst lesenswerte, locker geschriebene Beschreibungen von Skurrilitäten auf Reisen - mit Blick für die Tragikomik des Lebens und dem Gefühl, nicht alles ernst nehmen zu müssen, am wenigsten sich selbst. Und in die letztere Kategorie fallen für mich die "Storys" von Helge Timmerberg.
Diese meine Einschätzung ist natürlich auch wiederum höchst subjektiv - Sie mögen das völlig anders sehen.
Aus diesem Grund gebe ich hier einmal ein Beispiel für den Schreibstil von Helge Timmerberg.
Es geht um eine seiner "Storys", diesmal von einer Sizilienreise. Ein herkömmlicher Reiseschriftsteller könnte nun den Beitrag mit einer Schilderung der landschaftlichen Schönheit beginnen. Nicht so Helge Timmerberg. Bei ihm heißt es stattdessen, ich zitiere:
Die durchschnittliche Lebenserwartung eines männlichen Deutschen beträgt 28.556 Tage. Davon hatte ich bis dato 22.870 gelebt. Es bleiben mir also, statistisch gesehen, noch 5.696 Tage. Individuell und im Vertrauen auf meine guten Gene könnten es auch 8.000 oder 10.000 Tage werden. Angesichts der Unwägbarkeiten des Schicksals vielleicht auch nur einer. Das Schicksal heißt möglicherweise Luciano. Er ist mein Fahrer und wartet auf dem Amphitheater von Segesta in seinem Kleinwagen auf mich. Luciano ist klein, dick, lustig. Und er fährt wie eine wilde Sau."
- Zitat aus Die Straßen der Lebenden
In dem Kapitel schafft es Timmerberg, besagten Luciano vor dem geistigen Auge des Lesers gewissermaßen auferstehen zu lassen...er packt Gedanken an den Tod, Liebeskummer, die landschaftliche Schönheit Siziliens und Einblicke in den Alltag von Menschen wie Luciano in diese "Story", so dass zumindest ich schlicht und einfach Lesegenuss empfunden habe. Gerade eine gewisse Weitschweifigkeit führt zu einem angenehm zu lesenden "Plauderton", der das Gefühl vermittelt, dieser Autor vermag schlicht und einfach gute Geschichten zu erzählen. Selbst dann, wenn es letztlich nur um einen nächtlichen Spaziergang mit seiner damaligen Freundin geht.
Und das in Bezug auf Orte von Westfalen bis Südamerika, mit Lebensweisheiten und platten Witzen, Reisetipps und guter Beobachtungsgabe. Gerade so zu schreiben, als sei es locker heruntergeschrieben, ist alles andere als leicht. Chapeau!
Für mich neben wenigen anderen Autoren wie Thomas Kapielski der führende lebende Vertreter des Gonzo-Journalismus, da können Klassiker der Beatniks-Generation wie "On the Road" von Jack Kerouac bei mir nicht mithalten:
Schönen Feierabend!
Ihr
Michael Vaupel
Diplom-Volkswirt